Vorausschickend, eine Legasthenie oder eine Dyskalkulie ist weder eine Krankheit noch eine Behinderung, sie wird vielmehr durch eine differente Wahrnehmung eines Menschen hervorgerufen. Einfach gesagt, empfinden, sehen und hören legasthene/dyskalkule Menschen ein bisschen anders als andere. Die Erscheinungsform dieser anderen Wahrnehmung ist es aber, die zu den Schreib-, Lese- oder Rechenproblemen führt und die Menschen, welche nicht mit diesem Problem vertraut sind, glauben lässt, dass es sich deshalb, um es vorsichtig auszudrücken, um einen minderbegabten Menschen handelt.
Was soll man auch von jemandem halten, dem man mindestens schon zwanzig Mal ein einziges Wort beizubringen versucht hat? Der es einige Male richtig schreibt, dann aber wieder fehlerhaft? So jemanden für idiotisch zu erklären, fällt natürlich leichter, als sich über die Hintergründe zu informieren. Dies passiert auch dann meistens nicht, wenn man sehr wohl merkt, dass der Mensch, den man vor sich hat, oft überdurchschnittlich gute Gedankengänge hat.
Er verfügt offensichtlich über außergewöhnlich gute technische Ideen, ist unglaublich kreativ, hat eine hohe Auffassungsgabe, eine oftmals schier unglaubliche Merkfähigkeit, man denke nur an die Lesebücher, die mühelos auswendig gelernt werden. Leider wird in unserer Gesellschaft hundertmal mehr auf die Kulturtechniken des Lesens, des Schreibens oder des Rechnens Wert gelegt anstatt auf andere Talente. Dabei, seien wir doch ehrlich, wer ist denn schon in der deutschen Rechtschreibung nach der Reform und der Reform der Reform wirklich noch perfekt?
Wir täten gut daran, die besonderen Qualitäten der Betroffenen zu erkennen und nicht ständig auf den Fehlern herumzuhacken. Sie vor allem zu fördern, ihnen aber auch mental dabei zu helfen, über die Hürden der Kulturtechniken leichter hinwegzukommen, dies wäre wohl besonders wichtig. Hatte die Ansage hundert Wörter und gab es acht Fehler, wurden dann nicht zweiundneunzig richtig geschrieben?
Aber besonders die Rechtschreibung, oder auch Richtigschreibung genannt, ist für manche eine heilige Kuh und das Beurteilungskriterium für die Intelligenz eines Menschen schlechthin. Ein wenig engstirnig, oder? Tatsächlich haben Schreib-, Lese- oder Rechenkenntnisse absolut nichts mit der tatsächlichen Intelligenz eines Menschen zu tun. Dafür gibt es unzählige Beispiele.
Wobei natürlich damit nicht in Zweifel gezogen werden sollte, dass die Kenntnis von grundlegenden Schreib-, Lese- oder Rechenkenntnissen im gesamten Leben hilfreich ist und deshalb erlernt werden sollte. Doch ist es abzulehnen, diese Kenntnisse als Maßstab für den Wert eines Menschen herzunehmen, was tatsächlich so oft passiert.
Wir würden viele tolle Talente nicht verschwenden, wie es zur Zeit der Fall ist, sondern für unsere Gesellschaft nützen. Wie lange können wir es uns denn noch leisten, solche Talente zu verheizen? Tatsache ist, dass Legasthenie oder Dyskalkulie nicht sichtbar ist. Alles, was der Mensch nicht sehen kann, wird oft in Zweifel gezogen.
Wir haben für sprachbehinderte, für seh- oder hörbehinderte Kinder in unserem Schulsystem bestens vorgesorgt. Sie bekommen eine spezielle Förderung. Obwohl die differente Wahrnehmung nicht als Behinderung anzusehen ist, bräuchten diese Kinder in der Schule auch einen speziell auf ihre Bedürfnisse ausgerichteten Unterricht. Ihr Pech ist es nur, dass sich die Symptomatik bei ihnen lediglich in ihren Fehlern beim Lesen, Schreiben oder Rechnen widerspiegelt. Ihre speziellen Bedürfnisse werden nicht erkannt. Mit Vorurteilen, wie „Das Kind übt zu wenig!“ oder „Es ist einfach zu dumm, sich das von ihm Geforderte zu merken!“ oder „Einfach schlampig!”, ist man schnell bei der Hand. So mancher Lehrer konnte Eltern schon glaubhaft machen, dass sie eben ein „schwaches“ Kind haben.
So wird versucht, ihnen durch mühsames, vermehrtes Üben zu helfen. Diese Maßnahmen verursachen aber nur noch mehr Probleme, vor allem psychische, da man damit dem Kind ständig vor Augen führt, was es nicht kann, bzw. vom Kind etwas verlangt, das es nicht leisten kann. Vermehrtes Üben allein hat bei legasthenen oder dyskalkulen Kindern noch nie zum gewünschten Erfolg geführt.
BEITRAG AUS “DER LEGASTHENE MENSCH” ISBN 978-3-902657-08-4